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Fitspo-InfluencerInnen: Die Schillers von heute?

17. Juni 2025

Im Moment nehmen wir im Deutschunterricht die verschiedenen Literaturepochen durch. Wir begannen mit der Romantik, gingen weiter zum Mittelalter, zum Barock, zur Aufklärung, zum Sturm und Drang und sind nun bei der Weimarer Klassik angelangt. In dieser Epoche prägte das Denken des Idealismus das Weltbild - also die Vorstellung, dass die Menschheit auf einen Idealzustand hinarbeitet. Jeder Mensch trägt durch seine persönliche Entwicklung zu diesem Ziel bei. Gleichzeitig galt auch die Harmonie als zentrales Element, und das Menschenbild war entsprechend geprägt: Der Mensch besteht aus Materie und Geist - bildlich gesprochen wie Hardware und Software. Er hat einen Körper mit Gefühlen, Sehnsüchten und Bedürfnissen, aber auch einen Verstand, zu dem Interessen, Vernunft und Zielgerichtetheit gehören.

Der ideale Mensch ist der, bei dem beide Seiten in Harmonie stehen und ausgewogen sind. Demnach wurde einer der wichtigsten Zwecke der Kunst in dieser Zeit darin gesehen, den Menschen bei diesem Ausgleich zu unterstützen - ein lebenslanger Prozess, wie Friedrich Schiller meinte. Die Kunst sollte dem Menschen als Orientierung dienen und ihn zur persönlichen Entwicklung anregen, indem in der Kunst dieser Idealzustand dargestellt wird. Schiller nannte diese Form der Bildung durch Kunst die „ästhetische Erziehung zur schönen Seele“. Mit „schön“ meinte Schiller eine gute, moralisch gelungene Handlung, die aus innerer Überzeugung und ohne äusseren Zwang oder äussere Vorstellungen vollzogen wird. Anders gesagt: Man handelt im Affekt - und dennoch gut. Die schöne Seele beschreibt daher die Harmonie von Neigung und Pflicht, Körper und Geist.


Auch heute streben die Menschen noch nach Harmonie, insbesondere von Körper und Geist. Perfekt zu sehen ist dies momentan am Fitspo-Trend (eine Kombination aus Fitness und Inspiration). InfluencerInnen werben auf ihren Accounts mit ihrem Lebensstil, Fitnessprogramm oder mit ihrer Transformation vom früheren „schlechten“ zum perfekten Leben: Um fünf Uhr früh aufstehen, Smoothie trinken, dann ins Fitnessstudio; ein aufwendiges Frühstück, Meditation und Yoga dürfen dabei ebenso wenig fehlen wie die sogenannte „Morning routine“. Anschliessend arbeiten sie den ganzen Tag fokussiert und scheinbar ohne Ablenkung - natürlich voller Freude - und in den Pausen steht eine Joggingrunde an. Zwischendurch werden gesunde Snacks gegessen, das Abendessen ist ausgewogen, und zum Tagesabschluss wird gelesen und ein Journal geführt - etwa zur Selbstoptimierung oder zur Steigerung der Dankbarkeit.

Symbolbild: Fitnessinfluencer (Bild: Lia Studer)

Diese InfluencerInnen scheinen alle bereits den Zustand der Harmonie zwischen Körper und Geist erreicht zu haben und wollen nun den anderen Menschen helfen, diesen Zustand auch zu erreichen. Man könnte überspitzt sagen: Sie inszenieren eine Form von Kunst, in der sie selbst das Idealbild verkörpern, mit ähnlicher Funktion wie die Kunst der Zeit der Weimarer Klassik. Die Parallelen mit der Vorstellung von Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung sind nicht weit hergeholt. Doch während Kunst im klassischen Sinne zur inneren Entwicklung inspirieren sollte, führen solche Darstellungen heute bei vielen Menschen nicht zur Verbesserung, sondern zu Frustration, Selbstzweifeln und Unzufriedenheit

Doch woran liegt das? Worin besteht der Unterschied - warum kann bei Schiller ästhetische Erziehung stattfinden, während viele Fitspo-InfluencerInnen eher negative Gefühle hervorrufen?

Erstens sollte man beachten, dass der Inhalt der Clips, Videos und Fotos oft nicht der Realität entspricht und das Leben dieser InfluencerInnen teilweise total anders ist: Etwas, das FollowerInnen oftmals verdrängen, aber trotzdem unbewusst im Hinterkopf haben. Dadurch hat diese „Kunstform“ ein zentrales Problem: Weil unbewusst klar ist, dass das Gezeigte nicht echt ist, kann keine echte Identifikation stattfinden - im Sinne einer Vorstellung, diesen Zustand selbst erreichen zu können. Schillers Werke sind zwar ebenfalls nicht echt, das Dargestellte wirkt aber in sich glaubhaft und stimmig.

Zweitens verfolgen viele InfluencerInnen gar nicht das Ziel, ihre FollowerInnen beim Erreichen des Idealzustandes zu unterstützen. Vielmehr ist es ein Akt der Selbstdarstellung, der nicht das Ziel der ästhetischen Erziehung verfolgt. InfluencerInnen vermarkten sich selbst im Sinne eines „Personal Branding“. Um erfolgreich zu sein, müssen sie sich von der Masse abheben und Exklusivität ausstrahlen. Dies etwa durch den Gebrauch von tueren Produkten wie Fiji-Wasser in ihren Routinen. Diese dienen weniger dazu, ein nachahmenswertes Verhalten zu vermitteln, sondern vielmehr dazu, einen Lebensstil zu inszenieren, der sie von der breiten Masse abhebt und ihren Status markiert.

Ein weiterer, meiner Meinung nach entscheidender, Unterschied ist der Übermittlungsweg des Dargestellten: Bei der Literatur braucht es einen eigenen, aktiven Denkprozess, der Raum für Interpretation sowie die Anwendung auf das individuelle Leben lässt. Social-Media wird hingegen von den meisten mehrere Stunden am Tag konsumiert, ohne bewusste Denkleistung. Das Dargestellte wird daher oft ohne Reflektion lediglich übernommen. So denken die meisten etwa nicht: "Sport scheint der Person Spass zu machen, vielleicht wäre ein bisschen Sport auch etwas, das mir guttun würde", sondern eher: "Ich muss unbedingt ins Fitnessstudio gehen, damit ich genauso glücklich werde wie diese Person".

InfluencerInnen geben in diesem Fall nicht eine Inspiration zur eigenen, persönlichen Entwicklung. Sie fördern vielmehr das Streben nach einem gesellschaftlich idealisierten Zustand - einem Zustand, der gar nicht für alle Menschen den Idealzustand in Harmonie darstellt

Schreibprozess und Hilfsmittel

Quellen: