Im Rahmen des Deutschunterrichts haben wir, die Klasse M26a, die Erzählung Der Sandmann, geschrieben von E.T.A. Hoffmann, analysiert. Ziel des Unterrichts war das Erlernen des methodischen Analysierens eines literarischen Werks und damit verbunden die werkimmanente und werkübergreifende Deutung des Sandmanns. Ein Aspekt, den wir im Unterricht ausführlich besprochen haben, ist das Augenmotiv, das sich im ganzen Werk immer wieder finden lässt. Im Folgenden möchte ich spezifisch auf die Verbindung der Augen und der zunehmend verzerrten Wahrnehmung Nathanaels eingehen.
Schon in seiner Kindheit verknüpft Nathanael die unheimliche Gestalt des Sandmanns, welcher den Kindern anscheinend die Augen stiehlt, mit dem Freund von Nathanaels Vater Coppelius. Er stellt sich vor, wie dieser ihn packt und seine Augen und Glieder ausreisst. Diese traumatische Kindheitserfahrung prägt Nathanael so stark, dass er den Wetterglashändler Coppola später mit dem unheimlichen Coppelius gleichsetzt. Beim Wetterglashändler findet man unter anderem das Augenmotiv so wieder, dass dieser sogenannte „sköne Oke“ (Sandmann, S. 34) verkauft. Nicht nur "sköne Oke" verkauft Coppola, sondern auch Perspektive – ausziehbare monokulare Fernrohre. Ein solches verkauft er an Nathanael und so entsteht eine Szene, in der Nathanael durch dieses Perspektiv schaut, die Automatenfigur Olimpia erblickt und ihr verfällt. Ab diesem Moment verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie für Nathanael wieder. Nun sieht er Olimpia als die perfekte Frau und empfindet dementsprechende Gefühle für sie. Sie ist stets verständnisvoll und widerspricht ihm nicht - im Gegensatz zu Clara, die ihm helfen möchte, aber von ihm als "lebloses, verdammtes Automat" (Sandmann, S. 31) beschimpft wird. Dabei versteigert Nathanael sich immer wie mehr in eine irreale Welt.
Er verfällt jedoch erst endgültig dem Wahnsinn, als sein Bild der perfekten Olimpia, und damit seine allgemeine Wahrnehmung, zerstört wird: Spalanzani, der "Vater" Olimpias, und Coppola geraten in einen Streit um die Automatenfigur, bei dem Olimpia zerrissen und eines ihrer Augen von Spalanzani auf Nathanaels Brust geworfen wird. Nach dieser Szene wird Nathanael in einem Irrenhaus geheilt und sein Zustand scheint sich stabilisiert zu haben. Nun steht er aber auf einem Turm mit seiner Verlobten Clara, will in die Ferne blicken, sieht dabei durch sein Perspektiv unbeabsichtigt Clara und verfällt wiederum direkt dem Wahnsinn. Hier ist das Augenmotiv wieder durch das Perspektiv gekennzeichnet: Eine Verbindung mit der Szene des ersten Blickes durch das Perspektiv, als Nathanael der Olimpia verfällt. Er verliert die rationale Kontrolle über seinen Körper, seine Affekte nehmen überhand und jetzt behandelt er Clara wie Olimpia, weil er nicht weiss, ob sie real ist oder nicht. So sagt er:
„Holzpüppchen dreh dich, Holzpüppchen dreh dich“
~Sandmann, S.49
Wir haben besprochen, dass seine ganze Welttheorie in diesem Moment zusammenbricht und dies einen Menschen psychisch krank, verrückt und unberechenbar machen kann.
Ich fand diese Überlegung besonders spannend, weil sich in Der Sandmann viele Parallelen zu Verschwörungstheoretikern ziehen lassen, die in einer ebenso fragilen Realität leben. Ihre Welttheorie-Zerstörung kann wie bei Nathanael drastische Folgen haben.
Ähnlich wie Verschwörungstheoretiker fixiert sich Nathanael auf seine eigenen Überzeugungen und ignoriert alle rationalen Erklärungen, die seine Sichtweise infrage stellen. Erkennbar ist dies beispielsweise, als Nathanael sich bei Lothar über den Brief von Clara, die die unheimlichen Erlebnisse Nathanaels im Brief rational zu erklären versuchte, beschwert. Auch wird der Brief von Nathanael zurück an Clara gar nicht erst in der Erzählung aufgeführt. Typisch für Verschwörungstheoretiker ist die Isolation und das Leben in einer sogenannten "Bubble", in der sie sich nur noch mit Menschen gleicher Meinung abfinden. Nach meiner Interpretation ist das auch bei Nathanael sichtbar: Er entfernt sich von Lothar und Clara und verbringt viel Zeit alleine oder mit Olimpia, welche ihm nie widerspricht und höchstens mit "Ach, Ach!" (Sandmann, S. 43) antwortet. Nicht zuletzt zeigt sich eine Ähnlichkeit zwischen der Reaktion von Verschwörungstheoretikern und Nathanael, wenn sie erkennen, dass ihre Überzeugungen nicht der Realität entsprechen. Dies führt häufig zu einem Vertrauensverlust, zu Krisen in der Selbstwahrnehmung und nicht selten auch zu psychischen Belastungen. Darüber hinaus können starke emotionale Reaktionen auf die Widerlegung ihrer Theorien bei Verschwörungstheoretikern zu Aggressivität und Feindseligkeit führen, so wie Nathanael in der Schlussszene die Kontrolle verliert und seine Affekte überhandnehmen.
E.T.A. Hoffmann hat bereits im frühen 19. Jahrhundert – in einer Zeit, in der das Innenleben des Menschen erstmals verstärkt in den Fokus der Wissenschaft rückte und die Psychologie noch in ihren Kinderschuhen steckte – gezeigt, wie fragil unsere Wahrnehmung ist. Mit Der Sandmann verdeutlicht er, dass die Störung oder Zerstörung eines Weltbildes, sei es durch innere Konflikte wie bei Nathanael oder durch äussere Widerlegung wie bei Verschwörungstheoretikern, nicht nur Konsequenzen auf die Wahrnehmung, sondern auch die psychische Stabilität eines Menschen haben kann.
Quellen:
E.T.A. Hoffmann (2003): Der Sandmann. Text und Kommentar. Kommentiert von Peter Braun. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.